
An der Evolution der Menschheit von einer primitiven zu einer hohen Form der Zivilisation kann keinerlei Zweifel bestehen. Der Mensch hat sich intellektuell tatsächlich sehr weit entwickelt. Auch kann unsere gegenwärtige Entwicklungsstufe keinesfalls als eine Art Endstation oder Ideal betrachtet werden. Sie muss, wie alle früheren Epochen, vielmehr als Durch gangsphase zu neuen, noch viel weiter entwickelten Erkenntnisstufen auf gefasst werden.
Die Annahme jedoch, intellektuelles Wissen, so umfassend es auch sein mag, könne ab einem bestimmten „Reifegrad“ in spirituelles Wissen „übergehen“, ist eine Illusion.
Auf spirituellem Gebiet hat die Theorie der Evolution keine Gültigkeit, da Gott und das göttliche Wissen sich nicht entwickeln, sondern in alle Ewigkeit dieselben bleiben. Entwicklung bedeutet Wandel, und wo es keinen Wandel gibt, kann es auch keine Entwicklung geben. Die Spiritualität befasst sich ausschließlich mit der Rückkehr der Seele zu der einen unwandelbaren Wahrheit, die nur bei Gott zu finden ist, und nicht mit den Lebensbedingungen in der materiellen Welt.
Die Annahme, intellektuelles Wissen könne ab einem bestimmten Reifegrad“ in spirituelles Wissen „übergehen“,ist eine Illusion.
Heißt das: Solange sich die Entwicklungsbemühungen des Menschen nur auf seine äußere Existenz beziehen, nützen sie seiner Seele nichts und bringen auch die Menschheit insgesamt spirituell nicht voran?
Wir sollten uns stets der folgenden Tatsachen bewusst sein:
- Erstens stellen alle Erk enntnisse, die aus der Verbindung von Intellekt und sinnlicher Erfahrung (Empirie) entstehen – also auch die Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung – keine letzte Wahrheit dar, sondern höchstens eine Form von größerer oder geringerer Täuschung. Unser Wissen, so entwickelt es auch sein mag, ist immer nur sehr ausschnitthaft und unvoll kommen.
- Zweitens ist alles Wissen von der Materie – wie die Materie selbst – ständigem Wandel unterworfen.
- Und drittens bindet uns diese Form der Erkenntnis in jedem Falle an den Gegenstand ihrer Erkenntnis, also an die sinnlich erfahrbare Welt. Und diese Bindung hält die individuelle Seele weiterhin im Kreislauf der Wiedergeburten gefangen.
Solange sich ein Mensch damit zufrieden gibt, innerhalb der sinnlich erfahrbaren Welt in wiederholten Inkarnationen seine wechselnde Rolle zu spielen, gelten für ihn die Maßstäbe von Entwicklung und Fortschritt. Beginnt eine Seele jedoch, sich nach ihrem Ursprung zurück zusehnen und nach der unwandelbaren, ewig gültigen Wahrheit zu suchen, so wird sie zu der Einsicht gelangen, dass ihr nichts, was sie innerhalb der Welt tut und erkennt, zu diesem Ziel verhelfen kann. Dazu muss sie sich von der Welt ab- und nach innen wenden, um mit Gott in seiner eigenen Wirklichkeit in Verbindung zu kommen.
Aus dieser Sicht – gemessen am Maßstab der unvergänglichen, ewigen Wahrheit – ist jedes von Verstand und empirischer Erfahrung abhängige Wissen Täuschung oder Unwissenheit, während alles, was die Seele im Innern unmittelbar von Gott empfängt, Erkenntnis im eigentlichen Sinne ist.
Aber durchläuft nicht auch die Seele auf ihrem Weg zu Gott verschiedene Fortschritts- und Reifestufen, bis hin zur völligen Gottverwirklichung? Ist das nicht auch eine Art von Evolution?
Jede Seele trägt bereits seit Anbeginn der Schöpfung alle göttlichen Eigenschaften und damit auch das gesamte göttliche Wissen in sich. Es ist lediglich durch äußere Eindrücke oder materielle Hüllen verdeckt, so dass sie sich selbst und ihren göttlichen Ursprung nicht mehr erkennt. Der spirituelle Pfad ist ein Offenbarungsweg, auf dem die Seele Schritt für Schritt von diesen Hüllen befreit wird, und im selben Maße enthüllt sich ihr auch das göttliche Wissen und ihre ursprüngliche wesensmäßige Einheit mit Gott. Vom Zielpunkt her gesehen nimmt der spirituelle Schüler also eigentlich nicht an spirituellem Wissen zu, sondern an Unwissenheit ab. Vom Ausgangspunkt des inneren Weges sieht es genau umgekehrt aus, so dass er den Eindruck hat, immer mehr inneres Wissen zu gewinnen.
Wenn nun immer mehr Menschen diesen Weg nach innen einschlagen, dann ist das doch auch eine Möglichkeit, das Bewusstsein der Menschheit auf eine höhere Ebene zu bringen? So könnte sie am Ende doch noch zu der ethischen Reife gelangen, die es ihr erlaubt, ihr intellektuelles Wissen weise zu gebrauchen.
Wenn mehr Bewusstsein und Weisheit in die Welt kommen, dann nur durch immer mehr Einzelne, die in sich selbst den Zugang zur Quelle allen Bewusstseins und aller Weisheit gefunden aben. Durch sie wirken diese göttlichen Eigenschaften nach außen und können wiederum andere anregen, ihrem Beispiel zu folgen.
Je höher ein Mensch spirituell entwickelt ist, umso stärker ist naturgemäß auch sein Handeln von ethischen Werten inspiriert, da sein Gemüt und sein Verstand immer mehr von göttlicher Weisheit geleitet werden. Diese Fähigkeit dient jedoch nur dem Zweck, sein Leben in der Welt so zu gestalten, dass er „in der Welt lebt, ohne von der Welt zu sein“, also keine neuen karmischen Eindrücke mehr aufnimmt und sich nicht in neue weltliche Bindungen verstrickt. Dadurch verbessert sich natürlich auch sein persönliches Umfeld.
Dennoch ist und bleibt das höchste und eigentliche Ziel aller menschlichen Entwicklung die Erlösung aus dem Kreislauf des Lebens in der materiellen Welt, nicht die Verbesserung dieser Welt oder die immer bessere Anpassung an die darin herrschenden Lebensbedingungen, wie von der Theorie der Evolution postuliert. Die spirituelle Entwicklung der Seele hat in diesem Sinne nichts mit Evolution zu tun.
Ist das nicht eine sehr pessimistische Einstellung zum Leben?
Ob Sie diese Auffassung als pessimistisch bezeichnen, hängt von Ihrem Lebensziel ab. Streben Sie nach Selbstverwirklichung innerhalb der empirischen Welt, brauchen Sie die von mir dargelegte Sichtweise überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen, da sie Ihr Ziel nicht berührt.
Setzen Sie sich je doch zum Ziel, über die Grenzen der physischen Existenz hinaus zu gehen und zur ewig gültigen Wahrheit vorzudringen, wird Ihnen gar nichts anderes übrig bleiben, als früher oder später zur selben Einsicht zu gelangen. Da Sie dann aber die Alternative zu einem ausschließlichen Engagement innerhalb der äußeren Welt gefunden haben und wissen, dass sich in Ihrem Innern etwas befindet, das erstrebenswerter ist als alles andere, werden Sie diese Sicht der Dinge nicht länger als pessimistisch bezeichnen.
Auch hier kommt es also wieder auf den Standpunkt an, von dem aus man die Dinge betrachtet. Was passiert, wenn man zeitliche, wandelbare Dinge sub specie aeternitatis, also vom Standpunkt der Ewigkeit aus interpretiert, zeigt die folgende Erfahrung: Die Kirche hat im Laufe ihrer Geschichte oft vorläufige, historisch bedingte „Erkenntnisse“ als gottgegebene absolute Wahrheit hingestellt, wie die augenscheinliche „Tatsache“, die Sonne drehe sich um die Erde. Auch so herum gesehen sind Evolution und Religion offenbar zwei Paar Schuhe.
Solche Fehler haben die organisierten Religionen aus Mangel an spirituellem Wissen zu allen Zeiten begangen. Wie gefährlich das ist, zeigt das Beispiel von Menschen, die es wagten, derartigen „Wahrheiten“ zu widersprechen: Wissenschaftler wie Galileo Galilei oder Giordano Bruno, die ihrer Zeit voraus waren und zu neuen Erkenntnissen gelangten, wurden dann als Ketzer verfolgt oder gar getötet.
Nach dem Jesus-Wort: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (vgl. Mt 22,21) sollten Religion und Spiritualität daher immer unabhängig vom kulturellen Entwicklungsstand einer Gesellschaft gesehen werden.